John Anthony Thwaites:
Dascha Verne
WDR III - 25. 4. 1975
(anläßlich der Ausstellung in der Galerie Hof3, Aachen)

Es gibt nicht nur underground film sondern - und jetzt häufig - underground art. Als solche würde ich die Bild-Collagen von Dascha Verne bezeichnen, die gerade in der Galerie Hof3 von Thomas Bayer in Aachen hängen.
Diese Künstlerin ist fast zehn Jahre im "Underground" geblieben, nur von wenigen Leuten geschätzt, von Pech verfolgt, dem Galeriepubikum weitgehend unbekannt. Die Kunstwelt ist heute nicht weniger kommerzialisiert als die Welt des Films. Infolgedessen müssen neue Tendenzen als Mode, als Dernier cri lanciert werden, um Händler, Sammler und Museum eine geschäftliche Basis zu bieten. Dieses Spiel hat Dascha Verne nie mitgespielt. Sie hält keine Spielregel ein, die sie für eine der gängigen Ismen qualifizieren würde. Sie schneidet ihre Fotocollage aus den Illustrierten mit diesen harten, synthetischen Farben. Aber anstatt alles zu einem gut verkäuflichen Neorealismus aufzubauen, löst sie vieles wieder in lyrische Abstraktion auf. Jedoch betreibt sie auch keinen konsequenten Tachismus, um für eine Renaissance des Informel qualifiziert zu sein. Dascha Verne ist eine romantische Künstlerin, zugegeben. Ihre Collagen baut und malt sie oft zu Traumlandschaften auf. Das könnte eine Verbindung zur Nostalgie-Welle bedeuten, zu einem mißverstandenen Caspar David Friedrich oder Böcklin. Doch anstelle der Götterfiguren erscheinen im Höhepunkt Pop-Stars oder ein Akt aus der Illustrierten. Ein Schlag ins Gesicht.
Eine solche Ansammlung von Widersprüchen bringt meist nur ein Eklektiker zustande. Doch hier werden scheinbar entgegengesetzte Elemente durch Charakteristika zusammengehalten -bzw. verschmolzen - die höchst eigenständig sind. Zunächst ein ausgeprägter Sinn für layout, für mise en page. Mit schlafwandlerischer Präzision werden die Teile einander zugeordnet. Jede Stelle sitzt haargenau und verbindet sich optisch mit den Nachbarn, ob Collage zur Malerei oder Farbfoto zur Abstraktion. Dafür ist ein ungewöhnlich differenzierter Farbsinn notwendig, um alles in einer visuellen Harmonie zusammenzubringen. Ein gutes Beispiel dafür ist Das große Fressen, ein ironisch betiteltes Blatt von 1974. Ausgerissen, ausgeschnitten, angeklebt häufen sich die Werbebilder auf einer großen Tafel, die die gesamte Bildfläche einnimmt. Durch Übermalung ist alles zusammengefügt und in einem einheitlich- überschaubaren Bildraum situiert. Man ist an Freskomalerei erinnert - und dies nicht nur durch die Farben, hier kalkig, dort klar, sondern durch den Maßstab. Obwohl keine dieser Arbeiten groß ist, erwecken viele diesen Gedanken an ein Wandbild.
Trotz lyrischer Auflösung erlebt man hier eine Bild-Architektur. Dies bedeutet nicht, daß man Dascha Verne unter geplante Malerei einstufen könnte. Auch hier gleitet sie uns durch die Finger. Denn ihre bildnerische Methode ist nicht bauend, noch erzählend, sondern rein assoziativ. Daher die Traumbilder. Wie bei den Surrealisten ist das frei assoziieren der direkte Weg zum Unterbewußtsein. Eines trennt aber die Arbeit Dascha Vernes von dem klassischen Surrealismus. Die surrealistische Methode ist der Schock: Regenschirm und Nähmaschine, die sich auf dem Seziertisch treffen. Dieser Zusammenstoß ist hier nicht vorhanden. Die Vision ist nicht auf Kontrast, sondern auf Harmonie aufgebaut. Auch wenn die Elemente – zum Beispiel offener Rachen, Felswand, freistehendes Auge und Text Der Dauer-Killer – gegenüber gestellt sind, unterstützen sie sich und messen einander. Hier haben wir weniger die Welt die Welt von Sigmund Freud als die von C. G. Jung. Gestalten des Alltags gewinnen die Kraft von Sagen.