Dr. Sabine Schütz

Rede zur Ausstellungseröffnung Dascha Verne, „Mythen des Alltags“,

in der Galerie Holbein 10

Köln, am 5. März 2004


Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Dascha Verne, lieber Heinz Bossert,

Auf der Einladungskarte zur heutigen Ausstellungseröffnung von Dascha Verne hier in der Galerie Holbein 10 prangt ein knallroter Mund, die Zähne gebleckt und die Zunge provokativ herausgestreckt, daß es sogar Mick Jagger alle Ehre machen würde. Der Mund klemmt in der Armbeuge eines Mannes, dessen Gesicht von einer Pflanze verdeckt wird wie die Köpfe in manchen Bildern von René Magritte. Die Röntgenaufnahme einer Hand verleiht dem surrealen Ensemble einen makabren Zug, kehrt aber auch die humorvoll-witzige Seite hervor, ohne die den Collagen und Papierarbeiten von Dascha Verne eine grundlegende Qualität fehlen würde. Der plötzliche, vom assoziativen Schauen und absichtslosen Experimentieren freigesetzte Sinn dieser Bilder ist einfach nicht vorstellbar ohne eine gehörige Portion Hintersinn, über den die Künstlerin zur Genüge verfügt. Und sind uns der Witz und die immanente Logik bestimmter Bild- oder Bild-Text-Kombinationen einmal aufgegangen, dann locken sie unsere Neugier unweigerlich auf ihre labyrinthische Spur.

Beim Betreten der Galerie sticht dem Besucher sogleich das größte Bild der Ausstellung ins Auge, und das im wahrsten Sinne des Wortes. Dascha Verne versteht es als eine Art – allerdings ganz uneitle - Hommage an ihre eigene künstlerische Arbeit. Zugleich enthält es viele der für ihre Collagen charakteristischen Elemente. Zum Beispiel ihr ausgeprägtes Interesse an den Bildern der Mode- und Werbeindustrie. Auf einem trendigen Werbeposter des italienischen Modehauses Dolce und Gabbana entdeckte sie ein junges Paar von androgyner Erscheinung - und rückte den beiden Schönen kurzerhand mit ihrer Schere zu Leibe. Gar nicht mal unbedingt in mörderischer Absicht, aber doch, um sich deren allzu glattes Äußeres ein wenig nach dem eigenen Geschmack zurechtzustutzen. Denn das Zerschneiden, Zerreißen und Zerstückeln von Bildern, das Herausschneiden zentraler Motive, prinzipiell also ein Blick auf die Welt, der diese seziert und auf wundersame Weise neu wieder zusammenfügt, das ist Dascha Vernes Metier, auf welches sie mit diesem Bild direkt anspielt. Rechts am Rand sehen wir übrigens ein Abbild der Originalschere, mit der sie meistens hantiert, wenn sie eine Collage herstellt. In comicartiger Manier auf ein Vielfaches ihrer eigentlichen Größe aufgeblasen, wird aus der Schere ein monströses Gerät, das nun den Hals der jungen Dame bedroht. Oder doch nur ihre Haare schneiden möchte? Ob bedrohlich oder harmlos, die Schere ist wichtigstes Requisit und zugleich einprägsames Symbol dieser mit reicher assoziativer Begabung ausgestatteten Künstlerin.


Mehr als ihr halbes Leben lang arbeitet Dascha Verne mit ihrem ureigensten Verfahren – der Collage, die sie seit jeher durch eine Vielzahl anderer künstlerischer Techniken ergänzt, begleitet und kombiniert. Ohnehin ist das Kombinieren eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen, handelt es sich nun um echte Bilder oder um solche im Kopf, die erst noch zu visuellen Ereignissen werden sollen. Bereits die Einladungskarte zu einer ihrer ersten Ausstellungen in den sechziger Jahren zierte eine wilde, fast informell anmutende Collage. Die Künstlerin hatte gerade ihr Kunststudium an der Düsseldorfer Akademie bei den Professoren Josef Fassbender und Rolf Sackenheim abgeschlossen. Auf Fotos von damals sieht man sie u.a. mit dem Kritiker John Anthony Thwaites, der sich sehr für ihr Werk einsetzte, weil er darin eine gelungene Mischung aus Improvisationstalent, malerischer Delikatesse und visueller Harmonie sah. Daran hat sich bis heute nichts geändert, doch es ist einiges hinzugekommen im Laufe der Jahre. Vermutlich gibt es so gut wie keine experimentelle Technik, auf die sich Dascha Verne nicht eingelassen hätte, um ihre künstlerische Neugier zu befriedigen und ihr gestalterisches Spektrum zu erweitern. Nicht nur mit künstlerischen Verfahren wie Malerei, Zeichnung, Frottage, sondern auch mit Leim oder Kaffe hat sie ihre Collagen bearbeitet, mit Feuer oder in der Badewanne.


Damit steht sie natürlich in bester kunsthistorischer Tradition; besonders mit den phantastischen Bildcollagen der Dadaisten und Surrealisten verbindet sie eine enge Verwandtschaft. Fabuliertalente wie die Dadaisten Hannah Höch, Max Ernst und Kurt Schwitters haben sie zweifellos inspiriert. Gewiß stand auch Marcel Duchamp und der Gedanke des Objet trouve Pate. Und auch die Malerei des Informel mit ihrer ungezügelten, nicht selten auch destruktiven Gestik wirkt in ihren Arbeiten nach, denn genau wie für die Kollegen der 50er Jahre ist nicht das Ganze, Heile, Unbeschädigte Dascha Vernes Thema, sondern vielmehr – auch autobiografisch bedingt – das Anfällige, Brüchige und Widerspenstige, das sich hinter den Schleiflackfassaden verbirgt.


Dabei sind es vor allem und immer wieder zuerst die formalen Besonderheiten eines Bildes oder eines Bildelements, die Dascha Verne sucht, findet und schließlich miteinander verbindet: Entsprechungen im Gestus oder in der Haltung von Formen und Figuren, oder Dinge, deren Konturen sich in dekorativen Mustern rapportartig wiederholen, nehmen ihre Aufmerksamkeit gefangen. Objekte, die in Textfragmenten eine überraschende Interpretation erfahren – dergleichen Beobachtungen entgehen ihr nicht, und so manche ihrer Collagen wurde angestoßen durch einen Zufallsfund in einer Illustrierten, dessen formale Weiterentwicklung und visuelle Vernetzung die Künstlerin dann aufnimmt wie eine heiße Spur.

Zuweilen kann es auch die Kunst selbst sein, die, ganz im Sinne der aktuellen appropriation art, von Dascha Verne verarbeitet und integriert wird, wie im Falle der Collage mit dem ironischen Titel „Jeff’s Wall“. Sie allen kennen wahrscheinlich die Arbeiten des weltbekannten Fotografen Jeff Wall, dessen Großbilddia „The invisible man“ auf der documenta 2002 beeindruckte. Ein mißlungenes Foto davon liegt besagter Arbeit von Dasche Verne zugrunde, und mittels verschiedenster Techniken gelingt es ihr, in einen Dialog mit dem kanadischen Kunststar zu treten.


Immer wieder auch ist sie fasziniert von zufällig aufgeschnappten Sprachfetzen, vor allem solchen aus der Werbung, deren eindimensionale Prägnanz oft, in Konfrontation mit ausgewähltem Bildmaterial, ihre ganze Unwahrhaftigkeit und Oberflächlichkeit entlarven. Und spätesten hier nähern wir uns auch dem Titel der Ausstellung - „Mythen des Alltags“ , ursprünglich eine Prägung des französischen Philosophen Roland Barthes -,- der sich bei Dascha Verne vor allem auf die individuelle Verarbeitung festgelegter Stereotypen und Klischees bezieht, die sie hinterfragt und zugleich aufbricht, um sie mit neuer Bedeutung zu füllen.


Ein vieldeutiges und reichhaltiges Beispiel für Formgespür und Bildwitz ist die Collage „Deutsche Mythen“, in deren Zentrum man das idealisierende Familienporträt von der Hand eines gleichgeschalteten NS-Malers erkennt. Ein filigranes Tortendeckchen oder ein Sofakissen mit dem typisch-deutschen Knick in der Mitte spinnen die verlogene Familienidylle weiter bis hinein in die tiefste Nachkriegszeit, als Gemütlichkeit und Ordnung noch immer zu den hervorstechenden Merkmalen des „guten Deutschen“ gehörten. Doch dergleichen deutsches Mythengut bröckelt, ist merklich vom Verfall bedroht – das macht Dascha Vernes Auseinandersetzung unmißverständlich - und zu unser aller Genugtuung - deutlich: Übermalte, abgekratzte und verblichene Partien konterkarieren die abgestandene Idylle mit neuem chaotischem Leben. Mithilfe ihrer frei schweifenden Bildphantasie macht Dascha Verne den alteingenisteten Mythen malerisch den Garaus - und doch transportieren diese Bilder zugleich auch ein nostalgisches Moment, das wir, ganz unreflektiert, mit diesen Mythen verbinden.


Mindestens ebenso gilt dies auch für die – uns ja eigentlich längst viel näheren - amerikanischen Mythen. Im europäischen Bewusstsein haben sie sich als mediales Konglomerat aus Cowboylegenden, Zigarettenreklame, Wolkenkratzermythen, musikalischen oder medialen Stereotypen geradezu penetrant festgesetzt. Schon der Ausschnitt eines gepunzten Ledersattels ist in der Lage, vor unserem geistigen Auge nach Pawlowscher Manier den Marlboromann und seine Pferde auferstehen zu lassen. Zu den schönsten amerikanischen Mythen aber zählt natürlich Marilyn Monroe, die uns beweist, dass schon ein einziges Bild den Mythos verkörpert: Marilyn mit fliegendem Petticoat über dem Entlüftungsschacht. - Neben den großformatigen Collagen ist auch eine ganze Reihe kleiner, postkartengroßer Arbeiten entstanden, die den größeren Werken an Einfallsreichtum keineswegs nachstehen, ja diese manchmal an Spontaneität noch übertreffen. Eindringliche Bilder wie z.B. das des Soldaten, dessen Gewehr auf eine kleine menschliche Figur zielt, benötigen eben nicht unbedingt das große Format, um uns anzusprechen und zum Weiterdenken anzuregen.


Dascha Verne erweist sich in dieser Ausstellung auch als eine sensible und originelle Zeichnerin. Sensibel ist ihr feiner, fast seismographischer Strich, der aber stellenweise auch plötzlich hart, ja kratzend und schneidend werden kann. Insgesamt aber scheint sie ihre Zeichnungen wie ein zartes Netz über das Papier ausgebreitet zu haben. Originell erscheint mir vor allem, dass Dascha Verne auch ihre Zeichnungen meistens aus der Perspektive ihrer Collagen anlegt: Bei genauer Betrachtung nämlich erkennen wir, dass die Künstlerin hier die Konturen und Formen der Collagefragmente in feingliederige Liniengespinste übertragen hat, was den fragmentarischen, zerstückelten Charakter der Collagen aufhebt und ihnen zu einer Art übergeordneten, nachträglichen Einheit verhilft.


Viele von Ihnen, meine Damen und Herren, werden sich erinnern: Dascha Verne hat bereits im Jahr 2002 hier in der Galerie von Heinz Bossert ihre Arbeiten gezeigt, und heute nun stellen wir fest, daß sich ihr Werk zum einen treu geblieben ist, was ihre spontane Phantasie und Experimentierfreude angeht. Kein Zweifel: bei aller Offenheit ihrer Arbeitsweise ist eine formale und inhaltliche Kontinuität in ihrem Oeuvre seit vielen Jahren zugegen; im Laufe der Zeit ist daraus eine individuelle künstlerische Handschrift geworden.

Zum anderen beobachten wir, im Vergleich zu damals, auch eine Erweiterung ihres künstlerischen Horizonts – und parallel dazu eine Vermehrung ihrer technischen Verfahrensweisen. Erstmalig bekommen wir heute hier einen kleinen Ausschnitt aus Dascha Vernes fotografischem Werk zu Gesicht, das seit Ende der 80er Jahre entsteht. Und während sich die Collagistin Verne bevorzugt mit den gestylten Hochglanz-Produkten der Reportrage-, Werbe- und Modefotografie beschäftigt, kommen ihre eigenen fotografischen Bilder ganz unspektakulär und bescheiden, fast ein wenig beiläufig daher. Ihr fotografische Medium - das Polaroid - ist dabei dank der digitalen Technik heute völlig aus dem allgemeinen Gebrauch gekommen und allenfalls noch für Nostalgiker und Technikhistoriker von Interesse. Oder eben für Künstler – so war Richard Hamilton, dessen Werk man vor einiger Zeit im Museum Ludwig sah, ein begeisterter Polaroid-Fotograf, und berühmt berüchtigt sind die Polaroid-Sequenzen des Ehepaars Anna und Bernhard Johannes Blume, mit denen Dascha Verne und ihr Mann Michael Zepter seit vielen Jahren befreundet sind. Dascha Verne selbst bereichert dieses veraltete Schnellverfahren zur Fixierung des Hier und Jetzt mit ihrer intuitiven Neugier auf die Verwandlung der eigenen Lebensumgebung im magischen Spiegel der Fotografie.


Weiche, verwischte, manchmal auch verwackelte Konturen lassen nicht auf den ersten Blick erkennen, daß wir es hier offenbar mit den kleinen, sensiblen Fragmenten eines Selbstporträts von Dascha Verne zu tun haben, zusammengefügt zu einem autobiographischen Mosaik. Scheu, ja selbstkritisch blickt das Gesicht der Künstlerin sich selbst – und zugleich uns, als gleichsam heimliche Beobachter - aus dem Spiegel entgegen. - Schwarz verkohlte Papierfetzen erinnern nicht nur an einen glücklicherweise glimpflich verlaufenen Atelierbrand, sondern sie repräsentieren zudem, formal und für sich genommen, eine bizarr-abstrakte plastische Form. Die Wanne, in der Dascha Verne ihre Bilder „badet“, wie sie es ausdrückt, erscheint uns im künstlichen Licht des Polaroidblitzes als ein wildes, informelles Gemälde. Und die destruktiven Verfremdungen, die man einem Sofortbild durch bestimmte Manipulationen zufügen kann, setzt Dascha Verne gezielt und mit Gespür ein, um ein eigentlich vertrautes Motiv – etwa den Fernsehapparat oder die leere Weinflasche – mit spielerischer Leichtigkeit in eine Metapher der Mehrdeutigkeit zu verwandeln.


Mögen sich auch die Dinge, die Dascha Verne zum Anlaß ihrer künstlerischen Erkundungen wählt, im Laufe der Jahrzehnte verändert haben, so gilt noch immer, was Anthony Thwaites vor fast dreißig Jahren über ihre Arbeiten schrieb: „Die Welt, die wir durch diese Bilder spüren, geht tief und ist sehr alt. Gestalten des Alltags gewinnen die Kraft von Sagen.“


 Sabine Schütz