Dascha Verne - Neue Arbeiten
von Jörg Schubert

 

Die zeitgenössische bildende Kunst läßt viele ihrer Betrachter auch deshalb ratlos zurück, da in geradezu inflationärer Weise begriffliche Stilzuweisungen vorgenommen werden. Der Zweck scheint häufig kein anderer zu sein, als eine Bedeutungsaufwertung zu erreichen, die, so könnte vermutet werden, das je einzelne Werk nicht mehr zu leisten vermag. Angesichts solcher Spiegelfechtereien besticht das Werk der 1939 geborenen Kölner Künstlerin Dascha Verne zunächst durch eine klare Position, die ihren Ort im kunsthistorischen Kontext dieses Jahrhunderts offenlegt. Ihre Bildwelten entwickeln sich über der Basis der erstmals im Dadaismus umfassend verwendeten Collagetechnik und der informellen Malerei.

Verändert die eine den Blick auf scheinbar hinlänglich bekannte Realitäten, indem Fotos aus Zeitschriften herausgeschnitten und in neuen Kontexten einander zugeordnet werden, so vermag der informelle Malgestus die spontane Komponente des Bildes zu tragen. Der Kalkulation der Collage, die stets einen zumindest auch reflektierten Akt des Auswählens, des Wegnehmens (Schneidens) bis zu einem ganz bestimmten, bewusst gewählten Punkt, und dann der Neuordnung repräsentiert, korrespondiert eine ganz freie, dem Zufall folgende Malerei. So entsteht aus diesen Traditionslinien heraus eine neue Ausdrucksform, ohne dass sie begrifflich aufgewertet werden müßte.

 

Die besondere Vorliebe einiger Dadaisten für die Fotocollage gründete sich auf den Glauben, man könne so im Bild "die Irrealität des Traumes mit der dokumentierten 'Wahrheit' der Fotografie vereinen" (Robert Hughes). Dascha Verne löst diesen Ansatz in malerische Poesie auf, oder, besser noch, sie löst ihn in einer lyrisch zu nennenden Malerei ein. Denn der Betrachter ihrer Bilder erkennt erst einmal Versatzstücke seiner Welt, wie z.B. menschliche Figuren, verschiedene Tiere, Früchte oder Alltagsgegenstände. Doch die Orientierung, die solche beim Namen benennbaren Dinge ihm zu bieten scheinen, wird sogleich auf mehreren Ebenen entzogen. Einmal treten die Bilder entweder isoliert auf oder aber in einer realitätsfremden Neukonstellation nebeneinander. Zum anderen sind sie eingebettet in Malerei, die nicht etwa jene verwendeten Fotos umrahmt oder akzentuiert, sondern im Gegenteil scheinen die Fotos sich ganz der Malerei zu unterwerfen, als seien sie nur für diese Bilder Dascha Vernes gemacht. Derart könnte vielleicht von einer Art Wiedergeburt der Fotografie aus dem Gemälde gesprochen werden oder, weniger pathetisch, von der Erinnerung daran, dass jedes Bild seinen Ursprung nicht der Technik, sondern der menschlichen Fähigkeit zur Imagination verdankt.

Zwar verweist die Künstlerin selbst darauf, Ausgangspunkt ihrer Malerei sei das gefundene Bild. Indem sie es aber in ihre Farbwelten integriert, erfährt es eine Umwertung, die als wesentlicher Bestandteil einer Poetisierung von Welt begriffen werden muß. Diese Poetisierung läßt sich im Sinne Gottfried Benns als lyrisch so bestimmen: "Es gibt Stimmungen und Erkenntnisse, die kann man nur in Worten ausdrücken, die es noch nicht gibt." Was Benn damit fordert, ist nicht, neue Worte zu erfinden, sondern das Wort selbst zum Gegenstand von Dichtung zu machen, anders ausgedrückt, einen noch unbekannten Gehalt der Worte zu entdecken, so dass "das Wort real und (!) magisch, ein moderner Totem" wird.

In den Bildern Dascha Vernes begegnen uns gerade diese beiden Elemente. Indem ihre Malerei Bezug nimmt auf eine in der Fotografie fixierte Realität und diese gleichzeitig mit einem komplexen Ensemble von Farbflächen, Farbverläufen und Linien wie in imaginären Landschaften umgibt, zeigt sie das, was "es noch nicht gibt", mit dem Gestus der Verzauberung. Damit ist auf eine weitere Komponente im Werk der Künstlerin hingewiesen. Die Fotografie hat die Welt radikal verändert, in neuer Weise verfügbar gemacht, da sie vorgibt, zu jeder Zeit alles so abbilden zu können, wie es ist. Dascha Verne verweist auf eine Schicht hinter diesem Bild, auf ein Bild im Bild, das es aber erst zu erschaffen gilt, das beschreibbar ist als sein magisches Potential. In früherer Zeit gab es Eingeborene, die sich nicht fotografieren lassen wollten, da sie den Verlust (eines Teils) ihrer Persönlichkeit befürchteten. Es mag paradox klingen, aber in dieser Ablehnung zeigte sich die Anerkennung der magischen Kraft des Fotos, die es, sofern es nicht selbst Gegenstand eines künstlerischen Bemühens wird, heute längst verloren hat. Erst in der Neubegegnung mit dem vertrauten Bild in einer nicht vertrauten Umgebung scheint für uns dieser Zauber, den das Abbild eigentlich hat, auf. Oft erinnern die Bilder der Künstlerin an Landschaften, wie sie uns in Träumen begegnen und Gegenstand von Sehnsüchten, aber auch Ängsten werden können. Auf den Zufall im malerischen Prozeß wurde bereits oben verwiesen. Dascha Verne tränkt ihre Blätter mit Farben, die unter Wasser verlaufen, verwischt werden, durch Bewegungen gelenkt werden und dann trocknen, um vielleicht erneut dieser Prozedur unterzogen zu werden, während der das Bild zusätzlich mit dem Zeichenstift oder, ganz im Gegensatz dazu, mit dem Messer bearbeitet werden kann. Am Ende eines solchen Arbeitsprozesses steht jene "Landschaft", deren Verrätselung den Betrachter so fasziniert, dass er ihr schließlich begegnet wie etwas Vertrautem.

 

(© Schubert 1995)